ignorella

Superhelden säumen ihren Weg

Auf dem Weg zu ihrem Chatraum traf Ignorella auf Über-die-eigene-Füße-stolper-Man, der vor dem Kiosk vor sich hin taumelte. In der Hand hielt er eine Flasche Bier. Er schien nicht ganz nüchtern gewesen zu sein, denn nachdem Ignorella an ihm vorbeigegangen war, ohne ihn zu beachten, rief er ihr hinterher: "Allo Ignorella, kanns Du mir nischd edwas von Dir schicken? Vielleischt die kleine Silbe Rauto oder eine Flasche von die Bier, die immer..." Die letzten Wörter hörte Ignorella nicht mehr, denn sie hate ihren mobilen IGNO-Button gedrückt, den sie aus Teilen eines alten Flippers zusammengeschraubt hatte. Auch das Klirren der Schaufensterscheibe, in die Über-die-eigenen-Füße-stolper-Man gestürzt war, und die Sirenen des Krankenwagens erreichten ihre Ohren nicht mehr. Ignorella war in Gedanken bereits bei Arschgeruch-Man, den sie für diesen Abend zu sich eingeladen hatte, eigens zu dem Zweck, ihn im günstigsten Moment zu ignorieren. Sie hatte schon einen gut ausgetüftelten Plan.



Bob Dylan

   "Warum immer ich?" Ignorella fragte sich das ständig. Ganz besonders Schlaumeier-Man ging ihr auf den Zeiger.
   "Kann der nicht mal jemand anderen nerven? Mir gehn so langsam die Ignos aus." Das war natürlich eine dreiste Lüge, doch Quartalsäufer-Man war inzwischen so gut wie vollkommen intellektfrei und staunte nicht schlecht, als sie ihm ihre Trophäen zeigte.
   "Hier! Mein Lieblings Igno: Schlaumeier-Mans Übersetzung von Bob Dylans Tambourine Man. Es mag ja sein, daß ich einen nervösen Igno-Finger habe, aber niemand hat mir bisher widersprochen, daß diese Übersetzung ein Grund ist, ignoriert zu werden." Ignorella atmete tief durch und schloß eine Minute lang die Augen. Quartalsäufer-Man erstarrte in Ehrfurcht. Dann las sie vor:
   Tambourine Man. Text und Musik: Bob Dylan.
Deutscher Titel: Ich frier auch ohne Dich. Übersetzung: Schlaumeier-Man.
Die alte Weißwurstmarmelade im Kaffeegestirn sah von links betrachtet geringschätzig aus ihrer Flanellwäsche. "Menschen könnten so kalt sein", sagte sie mit verstellter Stimme und begann zu stinken. Mit kaltem Herz und langen Fingern fischte der Pförtner in seiner Schultasche nach einer Banane. Ermattet vom monatlichen Pornomarathon ließ er sich in den moosbewachsenen Gynäkologenstuhl fallen, radierte an einer Banknote das Wasserzeichen dunkler und betrachtete seine gelben Kegelschuhe wohlwollend. "Dann wolln wir mal", schallte der glockenhelle Bariton des Brotbefruchters durch die Kellergewölbe. "Alle mal weghören! Wer jetzt keine Lunte leckt darf früher von zu Hause weg". Stille ergoß sich fortan in karger Zuversicht über das Irgendwo. Blökend jaulte ein Rind.
   "Also ich find das gar nicht schlecht, ein bischen sehr frei interpretiert, aber..." Plötzlich war es still. Die Faust von Ignorella traf den Igno-Button mit ungeheurer Wucht.

   "Ich hab ihn gewarnt, Gott ist mein Zeuge. Ich hab ihn gewarnt."



Unser Lied für Brökelpier

   Der Eurovision Song Contest, das größte Musik-Event der Welt findet diesmal in Brökelpier, der Hauptstadt der Flandurischen Inseln statt, die den letztjährigen Wettbewerb gewonnen hatten. Den ersten Platz machte die Gruppe "Hukkolund" mit dem Song "Tömte Tömpitz Graatömtöm", einem musikalischen Parforce-Ritt über die Kraft der Liebe. Zweiter wurde auch diesmal wieder Kirgisien, das die zwölfjährige Noel Ting mit der bewegenden Ballade "Blekvads trokuz Nabakla" ins Rennen schickte. Die deutsche Gruppe Skrooter landete mit ihrem Tekkno-Kracher "Letzte Bestellung" überraschend auf Platz drei. In diesem Jahr wählte das deutsche TV-Publikum in einer Live-Sendung, die unangekündigt auf Astro-TV den frühen Morgen zum Tag machte, die bisher unbekannte Künstlerin Ignorella zur Vertreterin deutscher Pop-Kultur. Mit welchem Lied sie auftreten soll, wird sich heute abend herausstellen, wenn auf RTL Plus sieben Songs vorgestellt werden, die alle aus der Feder des vor allem auf Lanzarote begeistert gefeierten Superstars "Doctor Hip" stammen. Ab 22 Uhr können die Zuschauer für ihren Lieblings-Song voten, der gegen eine schwere Konkurrenz bestehen soll. Titel wie "What if there would be Peace",  "Think about the Children", "Let the Wonder happen" werden für Brökelpier hoch gehandelt. Als Top-Favorit für die Flandurischen Inseln gilt jedoch "Hekmeker Lofursu Ucliko" aus Turkmenistan.

Doctor Hips Songtitel in der Reihenfolge ihrer Vorstellung:

1. Arbeitslos und keine Zeit für Moral und Reinlichkeit.
2. Für Pommes und ne Cola Light mach ich sofort die Beine breit.
3. Ohne Slip im Sommerkleid, total versaut und stets bereit.
4. Auch wenn das Baby noch so schreit, zum Bravsein hab ich keine Zeit.
5. Ob Winter oder Sommerzeit, ich pfeife auf die Hausarbeit.
6. Der Sommer kommt, es ist soweit, das Röckchen hoch, die Beine breit.
7. Für Kohle mach ich jederzeit im Mittelfeld die Beinarbeit.
  

Die Zaubertinte

Ignorella saß entspannt in ihrem Sessel. Es war ihr Jugendtraum gewesen, sich unsichtbar machen zu können. Die Möglichkeiten schienen ihr damals geradezu fantastisch. Zwar betrachtete sie es auch heute noch als nützlich, sich ab und zu verstecken zu können, doch sie tat das nur noch selten.
Was täglich an Wortmüll, bzw. "Wortwichse", wie sie es ausdrückte, an sie gerichtet wurde, war schwer genug zu ertragen. In unsichtbarem Zustand ließen sich die leider oft brunzdumm scheinenden ääh, naja quasi "Herren" vollkommen gehen. Am schlimmsten aber fand sie, daß man diese Schiffschaukelbremser in Unsichtbarkeit nicht ignorieren konnte.
Gerade, als sie den letzten Gedanken gedacht hatte, fiel ihr auf, daß die Zaubertinte ihre Wirkung verlor. Nach und nach wurde Ignorella wieder sichtbar. "Na, hoffentlich benutzt niemand die Markieren- oder Zitieren-Funktion", dachte sie und beendete eilig ihren Aufenthalt.



Geronimo

    Zuerst verdächtigte Ignorella einen Mitschüler aus ihrer Abiklasse, der mysteriöse Geronimo zu sein. Sie erinnerte sich noch an seinen Vornamen, Ingo. Der Nachname war ihr entfallen, wenn sie ihn je gewusst hatte.
   "Wahrscheinlich Moore oder so ähnlich, besonders kreativ war der ja nicht", sagte sie zu Womanizer-Man, der auf einen Sprung mit rauf gekommen war und noch nicht ahnte, was Ignorella meinte, als sie ihm angeboten hatte, den Abend "für ihn angemessen" ausklingen zu lassen. Sie brauchte nicht einmal mit den Augen zu zwinkern oder ein anderes Signal zu senden, das ein Mann ihrer Erfahrung nach für eine Einladung zu ungebremstem Samenreintun hält. Sie aber hielt Womanizer-Man für einen narzistischen Spätaussiedler in Sachen Sinnlichkeit und hatte nun auch  noch genug andere, wichtigere Dinge zu tun, als ihm eine Erklärung abzugeben.
   "Willst Du mein Knöpfchen sehn?" fragte sie mit ruhiger sachlicher Stimme. Aus Womanizer-Mans Mundwinker floß ein Speichelfaden auf sein Kostüm. Seine weit aufgerissenen Augen glotzten vergeistigt auf die Finger, mit denen Ignorella ihren mobilen IGNO-Button hervor holte. Obwohl sie es theatralischer geplant hatte, war sie in diesem Moment damit zufrieden, durch einen herzhaften Hieb mit ihrer Igno-Faust den Button zu aktivieren. Womanizer-Man wurde daraufhin zunehmend undeutlicher. Ignorella hörte ihn noch jammern.
   "Ich hab doch nur gefragt, ob sie nicht doch manchmal, auch wenn sie eine Frau sucht, Lust hat auf einen großen, schönen..."
   "Wo war ich? Ach ja, Ingo. Wo hab ich denn mein Poesiealbum?" Ignorella lümelte sich in ihre Couch hinein und blätterte das Poesiealbum durch. Sie fand einen Eintrag und tippte ihn in ihren Laptop. Dabei las sie laut:
   "Ingo, Du Arsch,
Niemand kann mich zwingen, auch nur ein Wort von Dir zu lesen, denn Gott sei Dank bist Du nicht das Alphamännchen dieser Gemeinschaft. Deine Antworten werden von mir ab sofort ignoriert. Du findest sicher selbst eine Begründung dafür, warum das richtig ist, schließlich gibt es keinen brillanteren, eloquenteren Analytiker als Dich. Und damit auch kein Zweifel daran besteht, daß ich es ernst meine, folgt noch eine Beleidigung zum Schluß.
Was machst Du eigentlich den ganzen Tag?
Bist Du nicht der Typ, der als Kind die Legosteine zusammen geklebt hat?
Der seine eigenen Popel gegessen hat?
Der Hosenträger und einen Gürtel an der Hose trug?
Der von den Mädchen nicht einmal gehänselt wurde?
Und nun, Jahrzehnte später treibt Dich der Hass auf alle, die Spaß haben dazu, abends Dein Superhelden-Kostüm anzuziehen und das Forum nach Rache-Opfern zu durchsuchen. Tättärrätääää, INGO-Man! Ab sofort überall im Kino."


   Ignorella erstarrte augenblicklich, als sie erkannte, um was es im Fall Ingo tatsächlich ging. Sie hatte "Geronimo" auf ein Papier geschrieben und dann die Buchstaben i, n, g und o durchgestrichen. Übrig geblieben waren e, r, o und m. Rückwärts für more. Ihr wurde kalt und heiß gleichzeitig.

   "Das ist es also, More Igno. Der Autor ist nur ein Medium, um die Botschaft zu verbreiten, wahrscheinlich existierte er gar nicht als Person. Die Erkenntnis traf sie wie ein Einkaufswagen, der von hinten in ihre Hacken fährt. Eine Lösung war ihr aber nicht eingefallen, und so gab sie ihren Stolz auf.
   "Es gibt nur Einen, der mir helfen kann. Swietz." Klam Swietz verstand sofort, als Ignorella ihn anrief.
   "Du ignorierst mich also nicht mehr. Etwas Ungeheuerliches muß passiert sein, hat es was mit Geronimo zu tun? Ich kann Dir dabei nicht helfen, schon zu lange bin ich raus aus diesem Millieu. Aber ich schick dir Miss Biggs. Sie wird Dir bei der Sache helfen". Whiggsdy Biggs verlor keine Zeit und betrat Ignorellas Chatraum.
   "1zu1 bitte". Sie trafen sich in einem privaten Chatfenster und berieten lange ihre Vorgehensweise. Leider ist die Konversation nicht aufgezeichnet worden. Anwesende Camwichser beschrieben die beiden Heroinen als "entschlossen dreinblickend", als sie den 1zu1 Chat verließen. Ihr Plan war, den Firmeninhaber William R. Poppen zu ignorieren und damit eine Kettenreaktion auszulösen, die das ganze Forum infizierte. Als sie im Morgengrauen ihren Heimat-Chatraum verließ, tauchte ein malerischer Nebel die Webseite in ein romantisches Licht. Sie saß in einem Ruderboot und ließ die Hände an den Seiten im Wasser baumeln. Ihr gegenüber saß Frauenversteher-Man und ruderte mit gleichmäßigen Bewegungen das Boot in die Richtung des Privathafens von W.R. Poppen.
   "Na warte, wir werden Dich ignorieren, daß es eine Pracht ist, das hast Du Dir verdient, Will Poppen"...
   "Neeeeiiiinnnnn! Neeeeeeeeeeeeeeiiiiiiiinnnnnnnnnn! Nicht so eine Scheiße", schrie Ignorella, als sie von diesem Traum erwacht war.
   "Ihr verdammte Vollpfosten. Ich krieg Euch alle. Hört ihr?
   "ICH KRIEGE EUCH ALLE, HA HAA HAHA HAAA HAHAHAAA..."


Föhletong

Ignorella hatte einen Job als Journalistin angenommen. Ihr erster Auftrag war eine Buchbesprechung inklusive eines Interviews mit dem Autor. Nachdem sie das Buch gelesen hatte, was aufgrund wiederholter Übelkeitsanfälle nicht gerade einfach vonstatten gegangen war, stand nun das Treffen mit dem Autoren an. Sie lud ihren mobilen Igno-Button voll auf und verstaute ihn im Schnellhalfter. Klam Swietz wartete bereits vor ihrem Haus in seinem Auto.
   "Bringen wir es hinter uns, Klam. Du hast es gelesen?" Klam konnte einen Würgreiz gerade noch unter Kontrolle bringen, nickte und fuhr los. Auf der Fahrt zu dem Treffpunkt überflog Ignorella noch einmal ihren Entwurf der Rezension.
Einer unserer an Sexentzug leidenden Kollegen hat sich Erfahrungen mit der Seite hier ausgedacht und hurtig als Broschüre veröffentlicht, solange der Markt es so leicht macht. Auf sage und schreibe mehr als 150 Seiten mit unglaublich gewagten Buchstabenvariationen, geschrieben in genau jenem Lokalschreiberstil, der uns so urig vertraut geworden ist, kann sich seit einigen Tagen schon jeder selbst überzeugen, wie weit Begriffe wie Augenzwinkern, Humor und Erotik doch gedehnt werden können. Wir hatten das Glück, den Autoren in seiner Lieblingsvideothek treffen zu dürfen.
   "Kann man das erstmal so lassen?"
Klam antwortete nicht. Er mußte sich stark konzentrieren, um sich während der Fahrt nicht zu besudeln, als er sich in seine mitgebrachte Thermoskanne übergab.
   "OK, wir sind da, halt durch!" Sie betraten das Gebäude, in das sie bestellt worden waren und Ignorella schrieb Notizen in ihren Block:
   Gelangweilt falten wir das Buch so oft in der Mitte zusammen, bis es in die Pfennig-Sammelbox auf dem Tresen paßt. In einer Videothek wie dieser hatte sich Winnetou inspirieren lassen. Winnetou heißt übrigens gar nicht wirklich so, aber er will nicht, daß jemand ihm auf die Schliche kommt.
Wir kämpfen mit der Müdigkeit, während wir auf den käsig müffelnden Teppichboden starren. Dann schleicht ein Kerl auf uns zu, der uns schon allein durch sein Äußeres sofort verstehen lässt, warum er ohne Dating-Portal gewisse Nachteile hat.

   "Psst, ich bins. Habt ihr die Sachen dabei?"
Nach einer Transaktion, die unter dem Tisch stattfand und die wir nicht näher erklären dürfen, erfahren wir mit staunenden Kinderaugen, was Winnetou dazu gebracht hatte, sich in der Community, wie er das Fickportal in der Manier eines Markus Lanz nennt, anzumelden.

   "Meine Nachbarin hatte das Loch in der Wand entdeckt und ich konnte mit mir selbst nichts anfangen. Den Rest könnt ihr Euch ja denken", nuschelte er und sah sich unsicher um. Wir warteten ab, ob er noch etwas zu sagen hatte und fragten schließlich selbst nach, um so schnell wie möglich diesen Ort verlassen zu können.
   "Herr Winnetou, am Nickname eines Mitgliedes kann ja in der Regel nicht erkennen, um welche Person bes sich im realen Leben handelt. Warum haben sie nicht ihren Nickname für ihre Broschüre benutzt?"
Winnetou verharrte augenblicklich. Seine Augäpfel rollten sich schielend nach oben, bis nur noch das Weisse zu sehen war.
 "Naja, wissen sie, es gibt so viele Neider, die mir den Erfolg nicht gönnen. Das Gespräch ist hiermit beendet."
Er stürmte eilig zum Ausgang und wir stürzten hinterher. Auf der Straße schlugen wir, ohne daß es ein Ziel dort gab, die entgegengesetzte Richtung ein.

"Das ist ja sogar noch besser als IGNO", jubelte Ignorella. Es lebe die Pressefreiheit."


Die kleinen Dinge

    Ignorella war in Hochform. Sage und schreibe 14 Ignos hatte sie schon verschossen, und es war erst Vormittag. Ihre Laune war ausgezeichnet. Allein die Dialektschreiber brachten ihr über die Hälfte der Quote. Der Rest teilte sich auf in Camwichser, XXL-Schwindler, Switcher und die üblichen einfach unangenehmen Personen. Zweimal hatte sie nur so zum Spaß abgedrückt, ab und zu gönnte sie sich das. Jetzt wollte sie erst mal zu Mittag zu essen. Das Ignorieren hatte sie hungrig gemacht. Vor der Trinkhalle, an der sie auf ihrem Weg vorbei gehen mußte, schwankten bereits die Ersten zwischen dem Halten des Gleichgewichtes und des Alkoholspiegels.
   "Unnisch lossma netzare wassisch marresoll hawwisch ihr xacht", hörte sie es von weitem schon.
   "Monnemer-Man ist also wieder draußen", kombinierte Ignorella blitzschnell. "Na, da krieg ich ja was zu tun". Sie entschloß sich, vor dem Essen bei "IGNorbert's Elektro-Boutique" reinzuschneien, um ihren mobilen IGNO-Button zwecks Wartung abzugeben. Auf dem Rückweg in ihren Chatraum wollte sie ihn dann wieder abholen. Sie traf IGNorbert an dem Zigarettenautomaten gegenüber seiner Werkstatt, als er eine Schachtel White Rabbit öffnete.  Mit scherzhaft strengem Unterton sprach sie ihn an.
   "He, altes Haus. Wann hörst Du endlich auf zu rauchen?"
   "Woah, Norella. Habdschon langnimmesehn. Schrauch bisischumfall. Habsch grad zumein Alte sagt, seichfroh wennsch Kippekaufen geh, dakommsch wenicks andie Frischluft zweimal amtach. Hähäähää". Ignorella begleitete den Alten zu seiner Werkstatt und händigte ihm den mobilen IGNO-Button aus.
   "Wie immer. In einer Stunde hol ich ihn wieder ab. Und bitte übertreib es nicht mit den Probeschüssen. Dein Briefkasten quillt ja jetzt schon über." IGNorbert verschwand hustend mit dem mobilen IGNO-Button hinter einem speckigen Vorhang, der allzu neugierigen Kunden den Blick verstellte auf Dinge, die sie in ihrem eigenen Interesse besser nicht sehen sollten. Ignorella setzte ihren Weg fort und kehrte ein in den Gasthof "Gib Alles", einer skurrilen Szenenkneipe, studierte die Speisekarte, die "Schluck Du Sau" betitelt war, und entschied sich für die Salatplatte "Machs Maul Auf". Ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit durchströmte ihr ganzes Wesen. "Warum kann es nicht immer so sein?"



Keine Heimat
(Home Is Where The Heart Is)

   Ignorella konnte sich nur schwer konzentrieren und unterbrach die Postdurchsicht. Sie fühlte sich seltsam melancholisch an diesem Morgen und dachte wehmütig an die Zeit zurück, als es noch eine echte Strafe war, IGNOriert zu werden. 50 Punkte kostete das den IGNOrierten damals. Zwar sind die Empfänger der Nichtbeachtungsmaschinerie von heute nicht von dem damaligen Klientel zu unterscheiden, aber es ist für die IGNO-Aktivisten lange nicht mehr so spaßig, wie es einmal war.
Auch den IGNO-Empfängern fehlt ein unterhaltsamer Aspekt. IGNO hatte immer wieder wunderbare Momente voller ehrlicher Emotionen verursacht. Mehr noch, der Abzug von 50 Punkten sorgte bei Vielen für einen nicht für möglich gehaltenen Motivationsschub, der nicht selten gar im Reüssieren als Forenschreiber gipfelte. Im Diskussionsforum wurden die ahnungslosen IGNOrierten dann ein zweites Mal bestraft. Ganz gleich, welche Umstände zur IGNO geführt hatten und ungeachtet von Schuld und Unschuld des einen sowie Mißbrauch und Willkür des anderen Beteiligten, offenbarte sich den naiv staunenden Schreiberneulingen der übliche Verlauf einer Diskussion, die unaufhaltsam weitertobte, selbst wenn der Auslöser längst das Weite gesucht hatte und das ursprüngliche Thema keine Rolle mehr spielte. In der Regel konnten die Moderatoren nur durch die Schließung der Diskussion die Streitenden vor sich selbst schützen.
Ignorella hatte keine Erklärung dafür, was ausgerechnet Menschen, die Liebe suchten, bzw. machen wollten, in solche rücksichtslose Berserker verwandelte. Sie vermutete aber, daß es ähnliche Ursachen haben könnte wie die Metamorphose, die einen kultivierten Fußgänger zu einem pöbelnden Asozialen macht, sobald er am Steuer eines Autos Platz nimmt.
   "Das ficht mich nicht an, Menschen sind selbst an sich schuld. Ich kann ja nicht alles Übel dieser Welt auf einmal lösen, auch wenn ich große Lust darauf hätte. Eins nach dem anderen". Mit diesen Gedanken versuchte sie, ihre Verstimmung zu übertölpeln und überflog die Liste mit den neuesten IGNO-Updates, die sie am Morgen im Briefkasten gefunden hatte.



Der Erlöser

    "Verarschen kann ich mich alleine, Wichser", hatte Ignorella mit ruhiger Stimme geantwortet, als Xavier-Man sie gefragt hatte, wie ihr denn die Dialektik in seinen Songtexten so gefallen würde. Nach dem vierten Glas Feurio hatte sie sich dann aber in Rage geredet bei dem Versuch, dem Kurpfälzer Jesus-Freak ihre Auffassung von Dialektik zu erklären.
   "Mit der Einpflanzung von lächerlich banalen Spießerblümchen auf dem Platz hinter dem Wasserturm fing es an. Wo zuvor noch Studenten, Arbeiter, Schüler, Arbeitslose oder wer sonst gerade in der Laune war, im Gras lagen, plauderten, klampften, spielten oder knutschten, verbot die Obrigkeit eines Tages das Betreten der Grünfläche. Die Unterstützung durch das Spießbürgertum belegten Artikel im angeschlossenen lokalen Drecksblatt. Für die Bestückung der neuen Straßenbahn-Haltestellen Jahre später benötigten sie kein Alibi. Die Sitzbänke dort sind nicht flach, sondern nach vorne stark abgerundet, was eine ständige Korrektur der Sitzposition erfordert, um nicht vom Sitz zu rutschen. Seit diesem Umbau sind Obdachlose, die zuvor noch auf Haltestellen-Bänken übernachtet hatten, aus der Einkaufsmeile verschwunden."
   Ignorella hatte sich bemüht. Weitere Erklärungen schienen sinnlos zu sein. Dennoch gab sie nicht auf. Sie machte noch einen letzten Versuch.
   "Pass mal auf, Hase! Stell Dir vor, aus irgend einem Grund sind die Nazis wieder an der Macht. Vielleicht hat jemand aus Versehen moderne Technik in die Vergangenheit gebeamt, ein Handy zum Beispiel. Dadurch konnten die den Krieg gewinnen. Du glaubst wahrscheinlich, es müßten dann alle deutsch sprechen, in ihren Uniformen stramm stehen und alles, was Spaß macht, wäre dann verboten."
   "Boah, krass, und überall Hakenkreuze. Für Hip-Hop kommt man ins KZ und fürn Graffitti wird man erschossen. Voll der Faschismus", erwiderte der Dummschwätzer aus der Quadratestadt.
   "Und wenn ich Dir nun sage, daß Faschisten heute ganz ohne solche Erkennungsmerkmale ihre Ideologie umsetzen, meist sogar öffentlich und im Schutz der Gesellschaft, verstehst Du dann, warum allein schon das ständige Reproduzieren von Klischees die Wahrnehmung vieler um Wahrhaftigkeit Bemühter verklebt?"
   Sie wußte, daß sie den Faden verloren hatte, aber das war ihr gleich. Auf einen Heuchler wie diesen habe ich schon lange gewartet. Mit den Worten "Der Herr knickt alle Bäume der Umgebung" reckte Xavier-Man beide Daumen nach oben. Dann nuschelte er eine seiner faden Einschlafhilfen vor sich hin: "Geh davon aus..."  Xavier-Man, das mußte Ignorella enttäuscht erkennen, gehört nicht zu Jenen, welche zur Ausschöpfung geistiger Möglichkeiten einen persönlichen Bezug hat.
   "So bleibt mir keine Wahl". Ignorella drückte gelassen, aber bestimmt ihren auf Xavier-Man gerichteten mobilen IGNO-Button. Eine freundliche Stille folgte.



Kopflos

    Ignorella stand breitbeinig über dem jungen Mechaniker, als der letzte Atemzug seinen Körper verließ. Von ihrem Schwert tropfte Blut in eine rote Pfütze neben dem in Stücke gerissenen Körper. Sie trat einen Schritt zur Seite, um nicht länger von den weit aufgerissenen Augen angestarrt zu werden. Erst jetzt bemerkte sie, wie jung ihr Opfer war. Sie schätzte ihn auf höchstens 20 Jahre.
   "Sei's drum, er hatte seine Chance". Nachdem sie ihr Schwert an einem Fetzen seines Arbeitskittels abgewischt hatte, ging sie langsam die Treppe des Kellers hinauf, schritt durch die Werkstatt und verließ das Gebäude durch die angelehnte Tür zum Hof. Sie stieg auf ihre Vespa, startete sie aber nicht, sondern rollte auf die Ausfahrt zu. Im Rückspiegel sah sie, daß sich ihr jemand näherte. Der gerade eben von ihr zerteilte Hilfsschwengel ging mit ausgestreckten Armen hinkend auf sie zu. Er war jedoch zu langsam, um ihr gefährlich werden zu können.
   "Ach Gottchen, wie süß! Ein Zombie" kicherte sie amüsiert. "Sorry, mein Fehler", sagte sie, zog das Schwert und trennte mit einem eleganten Hieb den Kopf des Mechanikers von seinem Rumpf. "Das hatte ich ganz vergessen".
   "Vergessen...vergessen...vergessen...verges...sen...ver...ges...sen..." In Schweiß gebadet erwachte Ignorella und sah hastig in alle Richtungen. Dann atmete sie erleichtert aus. "Ein Scheißalbtraum, nicht zu fassen, ha!" Sie lag auf ihrer Couch und hielt eine Tüte Taccos fest umklammert. Stöhnend richtete sie sich auf und ging auf das Badezimmer zu. Ein Klirren, das aus der daneben liegenden Küche kam ließ sie schlagartig hellwach werden.
   "He, Du hast ja einen tiefen Schlaf, guten Morgen. Oder besser, Guten Abend." Ignorina, die Nichte Ignorellas, kam auf sie zu.
   "Magst Du einen Tee? Ist gleich fertig", fragte sie. Ignorella grummelte ein "Mmmnö, Kaffee" und betrat das Bad, das sie nach einem guten Schiß erleichtert wieder verließ. Sie setzte sich zu Ignorina an den Küchentisch und wartete auf den Kaffee.
   "Wird Zeit, daß der Scheißkerl den mobilen IGNO-Button repariert hat. Du bist ja vollkommen durch den Wind. Ich geh gleich mal in die Werkstatt und mach ihm Dampf.", sprach Ignorina.
   "Tu das, Süße! Und sag ihm: Auch wenn er nur ein Lehrling ist und der Meister krank, er soll gefälligst in die Socken kommen, sonst mach ich ihn einen Kopf kürzer. Noch zwei Wochen ohne das Ding halt ich nicht durch."



Die Jugendliebe

Ignorella hatte in alten Kartons gestöbert, um Flohmarktartikel zusammenzutragen. Dabei fand sie den handschriftlichen Entwurf einer Geschichte, die sie vor Jahren als "Erotische Geschichte" veröffentlichen wollte.

Es gab sehr viele Obstbäume, die niemandem gehörten, oder auf die niemand einen Anspruch erhob. Pflaumen, Birnen, Äpfel, Pfirsiche gab es mehr, als ein Mädchen ihres Alters allein tragen konnte, und so hatte Tilly einen Jungen aus der Nachbarschaft gefragt, ob er ihr bei der Ernte helfen würde. Natürlich hatte sie keinen x-beliebigen Jungen gefragt. Die meisten fand sie unausstehlich. Nicht nur wegen der Pickel, der fettigen Haare und der brüchigen Stimmlage, sondern auch wegen ihrer Manieren. Seltsamerweise verhielten sich gerade die Jungs mit den absurdesten Pubertätsmerkmalen am feindseligsten den Mädchen gegenüber. Zwei Häuserblocks weiter aber wohnte ein Junge, der sich von den anderen unterschied und mit dem sie gelegentlich auch schon mal heimlich auf der Mauer bei den Mülltonnen gesessen war, einem beliebten Treffpunkt für die Mädchen in ihrer Gegend. Klam, so hieß der Junge, war intelligent, höflich und besorgniserregend schlank. Sein Haar war so lang, daß er leicht einen dicken Zopf daraus flechten konnte. Er sprach auch nicht sehr viel. Das machte es angenehm, etwas mit ihm zu unternehmen. In diesem Sommer hatte Tilly Veränderungen an Klam festgestellt, die sie sich zunächst nicht erklären konnte und die sie untersuchen wollte. Die auffälligste Veränderung an Klam war seine Kleidung. Vor kurzem noch war sie, wenn man von ihrer Ärmlichkeit absah, für einen Jungen durchaus üblich. Seit einiger Zeit aber, sie schätzte seit 2 oder 3 Wochen, trug Klam keine Hosen mehr, sondern Röcke und manchmal sogar Kleider. Er tat dies jedoch ohne modische Akzente und völlig frei von Rebellion. Das beeindruckte nicht nur Tilly. Ein Junge in Frauenkleidern war üblicherweise ein Opfer, an dem sich selbst die feigen Verlierertypen noch im Schutze des Mobs abreagierten. Wenn Klam sich jedoch einer Gruppe von Menschen näherte, wurden Sätze nicht beendet und ein Korridor öffnete sich, als wäre er von einem undurchdringlichen Kraftfeld umgeben. Hätte Klam Tilly erzählt, er wäre ein Außerirdischer, so hätte sie das natürlich nicht geglaubt. Trotzdem wäre das die plausibelste Erklärung gewesen.
Tilly und Klam hatten innerhalb von 2 Stunden 3 Kisten mit Obst gefüllt. Tilly wollte gerade vorschlagen, unter einem Pflaumenbaum die mitgebrachten belegten Brote zu tauschen, um ihn dabei auf seinen Rock anzusprechen, als schwere Tropfen vom Himmel fielen und sich so schnell zu einem Platzregen vermehrten, daß sie in einen der alten Holzwagen flohen, die Baufirmen überall am Ortsrand zurückgelassen hatten. Tilly stand am Fenster des Bauwagens, nahm all ihren frechen Mut zusammen und sprach: "Klam, sag mal ganz ehrlich: Was soll das mit Deinen Klamotten? Warum hast Du einen Rock an?" Klam, der einen Schritt hinter ihr stand, legte beide Hände auf Tillys Schultern und schwieg lange. "Es ist ein toller Regen. Er riecht gut und es kühlt ab." Tilly gefiel, daß er genau das aussprach, was sie gerade dachte und hauchte gegen das Fensterglas. Dann stubste sie ihre Nase gegen das beschlagene Fenster, worauf ein kleiner Tropfen entstand, der langsam einen krummen Weg nach unten auf die Scheibe zeichnete und dabei immer größer wurde. In diesem Moment wurde ihr klar, wie gefesselt Klam sich fühlen würde, trüge er nicht einen Rock, sondern eine Hose, und so beugte sie sich ein klein wenig weiter vor, um seinen Schwanz ganz in sich aufzunehmen.




Liberty City

    Der Sommer flimmerte durch die Rolladenschlitze und füllte das Zimmer mit Großstadthitze. Nur durch einen Blick auf die kleine Uhr, die auf einer der Lautsprecherboxen stand, bemerkte Ignorella, daß sie fast 20 Stunden in Liberty City verbracht hatte. Die virtuelle Stadt in dem Spiel Grand Theft Auto 4 hatte sich praktisch über Nacht auf eine Weise verändert, wie sie es bisher nur von ihrer Heimatstadt erlebt hatte, nachdem sie im Alter von 27 Jahren ihre erste Brille bekommen hatte. Der Ausgleich ihrer Sehschwäche von 2,8 Dioptrien hatte ihr den Vorhang zum Blick auf die Welt weg gerissen. Damals hatte sie sich bemüht, darauf zu achten, nicht mit offenem Mund durch die Stadt zu gehen. Es war ihr nicht immer gelungen. Die neue Sicht auf Liberty City kam aber auf eine andere Weise zustande. Ignorelle hatte von einer Verwandten, von deren Existenz sie nichts wußte, eine kleine Summe geerbt. Das ermöglichte es ihr, dem fünf Jahre alten Computer, der gerade noch für Textverarbeitung und Internet zu gebrauchen war, ebenfalls den Todesstoß zu versetzen und ihn durch einen unvergleichlich leistungsfähigeren zu ersetzen. Bereits bei der Installation des Betriebssystems staunte sie über das Gerät mit 7 Kernen im Prozessor, 32 Gigabyte Ram und 2 Grafikkarten mit nochmal je 4 Gigabyte Grafik-Ram. Zusätzlich hatte sie ihren Internet-Provider gewechselt und gleich noch die Bandbreite auf 50 Megabyte pro Sekunde festlegen lassen. Alle Arbeiten mit dem neuen PC gingen flott von der Hand. Um zu testen, wie er mit den Problemfällen zurecht kam, hatte sie GTA4 aus dem Karton mit den für den Flohmarkt vorgesehenen Sachen geholt und installiert. Im Internet fand sie Modifikationen für das Spiel, die teilweise mit Warnungen vor der Zerstörung von unzureichender Hardware warnten. Neue Texturen und der ENB-Series-Mod für die Grafik und ein paar Skripte für den Spielablauf hatte sie eingebunden. Sie unterlag nun nicht mehr dem kurzen Tagesrhythmus des Spiels, in Liberty City herrschte jetzt die gleiche Uhrzeit wie bei ihr zu Hause. Außerdem mußte sie keine Missionen mehr erledigen, sondern die ganze Stadt erkunden. Zum ersten Mal konnte sie ohne Einschränkungen das Treiben in den Straßen und Parks beobachten, wie Fußgänger in Hundescheiße traten, wie unfähige Polizisten bei der Verbrechensbekämpfung scheiterten, wie Autofahrer in Faustkämpfen aufeinander losgingen. Es machte ihr großen Spaß, solche Schlägereien anzuzetteln oder Amokfahrten auszulösen, indem sie auf Autodächer kletterte, das brachte die Fahrer jedesmal in Rage. Die Hubschrauberflüge genoß sie ebenso intensiv wie das einfache Herumstehen an interessanten Plätzen. Oder sie gabelte sich eine Prostituierte auf, parkte und fuhr genau in dem Moment zwischen dem Akt und der Bezahlung los. Wenn sie nach kurzer Fahrt anhielt, stieg die verärgerte Professionelle aus und wollte sie aus dem Wagen zerren. Wenn nun der Wagen die Fahrt fortsetzte, rannte die Dame hinter dem Auto her, solange es nicht zu schnell fuhr. Sie probierte die verschiedensten Fahrzeuge zum Nutten aufgabeln aus, so holte sie sich eine in einem Müllfahrzeug ab, um es vor der Kathedrale unter den Augen von Touristen dort mit ihr zu treiben.  Sogar im Flughafen konnte sie sich aufhalten, ohne von der Polizei gejagt zu werden. Sie entdeckte Wege und Plätze, die sie nicht vermutet hatte. In U-Bahn-Schächten traf sie auf dort hausende Obdachlose, als sie mit ihrem Motorrad dort entlang fuhr, in einem Hinterhof fand sie einen Parkur für Mountain-Bike-Stunts. Ignorella hatte die Zeit vollkommen vergessen und mußte sich zwingen, das Spiel zu beenden. Da sie hungrig war, aber keine Lebensmittel mehr zu Hause hatte, machte sie sich auf den Weg zum Bäcker an der nächsten Straßenecke. Sie kaufte süße Teilchen und wollte gerade den Laden verlassen, als ein hagerer Kerl mit einer rotgeäderten Nase in einem ärmellosen Netzhemd und knielangen Shorts den Laden betrat. Hosenträger verhinderten, daß seine Shorts auf seine sandalenbeschuhten Plattfüße herunter rutschten, um den Blick auf seine mit gelblichen Flecken verkrustete Feinripp-Unterhose vollkommen freizugeben. Beim Öffnen der Ladentür rief er mit lauter, überschnappender Stimme: "Palim Palim!"
Ignorella tastete instinktiv nach ihrem Revolver, fand jedoch nur das leere Halfter ihres mobilen Igno-Buttons. "Verdammt! Verdammt verdammt!" entfuhr es ihr. "Sie sind ein Glückspilz, wissen sie das?"



Die Anhörung

    "Antworten Sie bitte auf meine Frage!" Der Vorsitzende hatte seine Stimme erhoben. "Es ist nicht angebracht, laut zu werden, Eure Hoheit. Ich denke nach", antwortete Ignorella. "Unterlassen Sie es, mich mit Hoheit anzureden. Ich wiederhole meine Frage: Ist es wahr, daß Sie einen modifizierten Igno-Button besitzen, der es Ihnen ermöglicht, in der realen Welt, also Offline quasi,  Menschen aus Ihrer Wahrnehmung auszublenden? Müssen Sie über diese Frage tatsächlich erst nachdenken?" "Welche Frage soll ich zuerst beantworten?" konterte Ignorella. "Besitzen Sie einen mobilen Igno-Button? Ja oder Nein?" "Nein, Chef." Der mobile Igno-Button befand sich seit Wochen zur Reparatur in der Werkstatt eines Vertrauten Ignorellas, daher war sie der Meinung, nicht gelogen zu haben. "Hatten Sie in der Vergangenheit jemals solch ein Gerät benutzt?" "Ja, mein Bruder, das hatte ich." "Laut Berichten von Betroffenen sollen Sie ihn sehr häufig und recht wahllos benutzt haben. Eine Gruppe von Männern, die ihre erfolgreiche Abiturprüfung zu feiern gedachten, wurde von Ihnen ohne Vorwarnung und unter den Augen von unzähligen Passanten in der Fußgängerzone ignoriert. Erklären Sie bitte, warum Sie das getan haben." Ignorella atmete deutlich hörbar aus, blickte den Vorsitzenden mürrisch an und sprach: "Diese jungen Kerle saßen an einer Haltestelle der Straßenbahn. Eine alte Dame bat darum, für sie einen Sitzplatz frei zu machen. Einer der Kerle lachte die Dame daraufhin aus und machte Witze über ihren Haarersatz. Er sagte, sie sei doch noch jung genug, um im Stehen auf die Straßenbahn zu warten, schließlich habe sie noch volles schwarzes Haar und er habe sowieso noch nie in seinem Leben schwärzeres Haar gesehen."
Ignorella erinnerte sich noch deutlich an diese Begegnung. Die Gefährten des Wortführers, die sich dem Anschein nach ebenso wie er selbst an dem mitgebrachten Bier gütlich getan hatten, nahmen dessen Frechheit zum Anlaß, nun ihrerseits die Alte mit Hohn und Spott zu überziehen. Es wäre sicher klug gewesen, die Saufnasen nicht zu ignorieren, sondern der alten Dame beizustehen, um die juvenilen Arschgesichter in ihre Schranken zu weisen, aber Ignorella hatte einen schlechten Tag. Sie berührte den Ellenbogen der Dame, gab ihr den Igno-Button in die Hand und bat sie, auf den einzigen Knopf zu drücken. Als sie das getan hatte, huschte ein Lächeln über das Gesicht der alten Dame und sie setzte sich auf eine in ihrer und Ignorellas Wahrnehmung freien Wartebank. Daß sie auf den Blödmännern mit Hochschulreife Platz genomnen hatten, war den Frauen nicht ersichtlich. Ignorella setzte mich neben die Alte und sie begannen ein Gespräch, in dessen Verlauf der Grund für das Tragen der Perücke wurde. Die alte Dame war sich ihres hohen Alters durchaus bewußt. Ihr Alltag war sogar ausschließlich auf diesen einzigen Aspekt ihrer Person ausgerichtet. Die Welt begegnete ihr in allen Facetten wie einer alten Frau, die für gebrechlich und unansehnlich gehalten wurde. Manchmal, wenn sie der Übermut packte, setzte sie sich die schwarze Perücke auf, die sie gerade deshalb gekauft hatte, weil sie so überaus schwarz und lockig war. Sie hatte selbst einmal schwarze Locken, und vor allem die Männer, von denen sie reichlich hatte, bewunderten ihre Locken, die sie wild wachsen ließ. Ihre Muschi aber war stets blank rasiert, das war ihr ein Bedürfnis, wie sie betonte. Gerade im Sommer hatte sie es sehr genossen, wenn ein leichter Wind unter ihr Röckchen hauchte. Sie erzählte von ihren Eskapaden mit hochgewachsenen Männern mit ordentlichen Riemen, wie sie es nannte, undgestand, daß sich ihr bevorzugter Typ von Mann nicht geändert hatte. An diesem Tag der Begegnung mit Ignorella verspürte sie den Drang, dieses frivole Gefühl erneut zu erfahren. Wie an manch anderem Tage begab sie sich mit der Perücke auf dem Kopf, frisch rasiert und ohne Höschen in die Stadt, um sich Männer anzuschauen. Natürlich wußte sie, daß es zu keinem Rendevouz kommen würde, aber wenn sie dann in ihre Wohnung zurückkehrte, ließ sie es sich gut gehen. Bevor sie sich voneinander verabschiedeten, lachten die beiden Frauen noch darüber, wie es die pickeligen Trunkenbolde wohl empfinden, daß eine alte Frau mit Perücke und ohne Unterwäsche auf ihnen sitzen würde, und sie scherzten darüber, daß in diesem Moment Inkontinenz einen gewissen Reiz hätte.
"Ist das alles?"
Die Frage des Vorsitzenden riß Ignorella erneut aus ihren Gedanken. "Ja, Meister, das ist alles."

"Sie sagten, daß sich der mobile Igno-Button nicht in Ihrem Besitz befindet. Wo ist er jetzt und warum haben Sie ihn nicht mitgebracht?" säuselte der Vorsitzende und versuchte ein ironisches Lächeln. Ignorella antwortete: "Netter Versuch, ich kann mir denken, was Sie andeuten wollen. Sie glauben, daß der geringste Anlaß den mIB aus seinem Halfter lockt, daß ich mit den kleinsten Problemchen nicht zurecht komme und daß ich Hilfe brauche." Ein Gedanke schoß Ignorella durch den Kopf. Was wäre, wenn diese Amtsperson Recht hätte? Das wollte sie nicht glauben, aber eine ähnliche Vermutung hatte ihre Nichte Ignorina vor einigen Tagen auch schon ausgesprochen. Ignorella wurde schwindelig. Sie wußte, eine Ohnmacht würde sie gleich auf den Boden drücken. Bevor sie zusammensackte dachte sie noch daran, was für einen Eindruck sie nun vermittelte und sprach ungewollt: "Einen erbärmlichen".
Als Ignorella die Augen wieder öffnete, blinzelte sie in ein gleissend helles Licht und versuchte zu erkennen, wo man sie hingebracht hatte. "Bin ich auf Schalke? Läuft das Spiel schon?" Jemand sagte: "Sie sind im Krankenhaus. Schlafen Sie weiter. Es ist Sonntag, da kommt die Visite immer etwas später." "Und das Flutlicht? Wie spät ist es jetzt?" Die Krankenschwester blickte auf ihr Handgelenk und antwortete: "Kurz vor fünf Uhr morgens. Sie können noch schön lange schlafen." Von der anderen Ecke des Zimmers röhrte eine Stimme: "Dann machet Lischt aus, Schwester!" Das Licht blieb an. Die Krankenschwester hatte mit den Worten "Ich mach hier nur meine Arbeit" die Tür zugeschlagen und ging in das Schwesternzimmer, so vermutete Ignorella jedenfalls, da der Weg der Schwester sehr lang war und ihre Schritte wie Böller durch den Krankenhausgang knallten. "Na prima!" seufzte Ignorella und versuchte, einen Grund zu finden, warum sie denn nicht auch diese Krankenschwester ignorieren soll. "Ihr könnt mich mal. Fast wär ich drauf reingefallen. Ich muß meinen IGNO-Button wieder haben."
Nach der für Krankenhäuser üblichen morgentlichen Frühstücksparodie erschienen Ignorina und Klam Swietz zu einem Besuch am Bett Ignorellas. Diese rang den beiden Versprechen ab: Klam Swietz sollte Ignorella zwei Wochen bei sich aufnehmen und Ignorina sollte sich um den mobilen Igno-Button kümmern. Ignorina: "Hey, nimm das alles nicht so ernst. Entspann Dich mal. Wenn Du hier raus bist erhol Dich bei Swietz. Das ist eine gute Idee. Und laß Dich mal wieder so richtig durchvögeln." Ein Grinsen huschte über Klams  Gesicht, das er schnell unterdrückte, als Ignorella ihn musterte: "Also ich muß doch sehr bitten, Rina. Wie redest Du denn? Und Du, Klam: Behalt Deine Finger bei Dir."

"Wieso überhaupt diese Anhörung? Wie kam die denn zustande? Warum bist Du überhaupt dort hingegangen, das war doch nichts Offizielles, oder etwa doch? Kann es sein, daß im nächsten Moment jemand seine Perücke vom Kopf gerissen und gebrüllt hätte: 'Verstehen Sie Spaß?' Aber weil Du umgekippt bist, senden sie das sowieso nicht, das tun die nie. Die haben eine ganz miserable Ausbeute. Weniger als zehn Prozent ihrer Scherze mit versteckter Kamera kommen überhaupt in die engere Auswahl, weil die Reingelegten nicht so funktionieren, wie die es gerne hätten. Deshalb nehmen die ja immer mehr Prominente. Die spielen auch mit, wenn sie längst Bescheid wissen, schließlich wollen die, daß das gesendet wird. Hast Du den Vorsitzenden mal genauer betrachtet? Der sah doch aus wie Markus Lanz mit falschem Bart."
"Klahaam! Halt die Klappe und sieh auf die Straße. Mir brummt immer noch der Schädel. Außerdem ist der Lanz jetzt der neue Gottschalk und nicht bei Verstehen sie Spaß."
"Ach wirklich?" Klam Swietz grübelte. "Das erklärt einiges. Ich schätze aber, eine Entschuldigung reicht nicht aus."
Ignorella hob einen Zeigefinger, worauf Klam augenblicklich verstummte. "Geschehen ist geschehen. Ich will nichts mehr davon hören. Woher solltest Du auch wissen, welche Auge aus Glas ist. Hat er jetzt eben zwei davon. Einen wie Elstner haut das nicht um, wahrscheinlich plant der schon eine neue Show, 'Blind Date' oder irgendwas ähnliches. Und er weiß ja auch nicht, daß Du das warst."
"Und wer macht jetzt Verstehen sie Spaß? Nein, sag es nicht! Ich will es eigentlich gar nicht wissen. Am Ende ist es Karasek oder Sloterdijk."
"Was hast Du mit Ignorina denn vereinbart? Fährt sie in die Werkstatt und nimmt den mIB an sich? Treffen wir uns dann mit ihr?"
Klam Swietz lenkte den Wagen langsam in die Einfahrt seines Hauses und parkte ihn in der Mitte der Garage.
"Fran ist nicht da. Als sie hörte, daß Du kommst, hat sie zwei große Koffer gepackt und irgendwas gemurmelt, das wie 'Resturlaub' klang."
Ignorella verdrehte die Augen und seufzte: "Versteh einer die Frauen."
"Rina sagte, sie habe noch Wichtiges zu erledigen und sie würde in ein paar Tagen nachkommen. Du, Tilly, ich muß Dich was fragen. Es ist vielleicht unbegründet, aber ich habe so ein dumpfes Gefühl, ähm: Kann man Rina auch wirklich trauen?"
Ignorella sah Klam entsetzt an.
"Hast Du mich gerade Tilly genannt? Das hast Du schon fast 20 Jahre nicht mehr getan. Komm nicht auf dumme Gedanken, alter Mann. Und wegen Rina brauchst Du Dir keine Sorgen machen. Sie hat gerade etwas über Dich geschrieben. Es erscheint in 'Profil Megazine'. Eine Kurzbiographie. Nicht sehr umfangreich, aber wohlwollend geschrieben. Sie hat mir eine Vorab-Ausgabe gemailt. Interessiert?"
Ignorella und Klam verstauten ihre Sachen im Haus, setzten einen starken Kaffe auf und lasen, was Ignorina über Klam geschrieben hatte.

Lore Fruchtig erreichte das Dorf Hockerlingen nach ihrer Flucht aus den grauen Bergen mit ihren Kindern und sprach mit niemandem jemals über die vergangene Zeit. Der Hockerlinger Steinmetz Wilbur Swietz, der Lore und ihren Kindern ein neues Leben versprochen hatte und sich der Erfüllung dieser Aufgabe voller Hingabe widmete, verstarb auf dem Weg zur Schule, von der er Klam abholen wollte, an einer Hirnblutung. Er hatte gedankenverloren in seiner Nase gebohrt, als er über einen herumliegenden Ast stolperte und zu Boden stürzte. Er schlug mit dem rechten Ellenbogen auf dem harten Feldweg auf, wodurch sich der kleine Finger, der in seiner Nase steckte, wie ein Gleisnagel in Wilburs Gehirn bohrte. Die Schwestern Klams, die auf die Namen Maite, Belisa, Simmy und Holunda hörten, hatten vier unterschiedliche Väter, die Lore einer wie der andere sich selbst überließen, noch bevor ihre Kinder geboren waren. Der Junge Gorm, das sechste Kind der Lore Fruchtig, erblickte das Licht der Welt an Klams viertem Geburtstag im Alter von fünf Jahren. Bis zu diesem Tag ahnte nicht einmal Mutter Lore etwas von Existenz Gorms. Während jener denkwürdigen Geburtstagsfeier klagte Klam über starke Schmerzen in seiner rechten Schulter, und gerade, als die Schwestern zu einer Polonäse ansetzen wollten, ging er ohnmächtig zu Boden. Aus Klams rechter Achselhöhle schälte sich der in ihm eingewachsene Bruder unter lautem Gebrüll bis zur verwachsenen Hüfte heraus. Gorm, wie er später genannt wurde, fluchte und schimpfte und machte seinen Schwestern unanständige Angebote, zog sich aber wieder in Klams Körper zurück, nachdem er eine warme Wurstsuppe verschlungen hatte. Die Untersuchungen, die eigens aus der Hauptstadt angereiste und zur Verschwiegenheit gemahnte Spezialisten anstellten, ergaben zum Entsetzen aller, daß Gorm ohne den geringsten Zweifel ein ganzes Jahr älter war als Klam.

Die fassungslosen, schockierten Mediziner und ihre eingeweihten Zuträger und Gehilfen gaben vor, niemandem von diesem zusätzlichen skurrilen Detail zu berichten, waren doch allein schon die Existenz Gorms, sowie die Umstände seines verstörenden Erscheinens nicht einmal von den Abgebrühtesten ohne Schaudern zu ertragen gewesen. Neugierige Nachbarn, vor denen Gorm nicht bei jedem seiner Auftritte versteckt werden konnte, bezichtigten Lore Fruchtig und Wilbur Swietz jedoch der dämonischen Umtriebe, worauf die ganze Familie eines Nachts vor den herannahenden, mit Fackeln und Mistgabeln bewaffneten Gläubigen die Flucht ergriffen hatte und sich nach einem gefährlichem Fußmarsch in einem entfernten Dorf mit unaussprechlichem Namen nieder ließ, dessen Bewohner dem Klerus  traditionell skeptisch gegenüber standen, wie der allerorten bekannte und geschätzte Steinmetz Wilbur Swietz wußte. Die Umstände des Erscheinens von Gorm aus der Achselhöhle seines jüngeren Bruders und die derben Begrüßungsformeln Gorms hatten Klam bereits in jungen Jahren unzählige Aufenthalte in Gefängniszellen und Psychatrischen Anstalten eingebracht, aus denen er nur nach radiologischen Untersuchungen wieder entlassen wurde.

   Wilbur hatte Lore nicht velassen, und so gab Lore ihrem einzigen für sie vollwertigen Sohn den Nachnamen Wilburs.  Das Wort Swietz klang gütig und makellos in den Ohren der Mutter und Klam erfuhr viel später erst, daß er einmal Fruchtig geheißen hatte. Lore Fruchtig setzte ihr Leben lang alles daran, Klam so unbeschwert aufwachsen zu lassen, wie es möglich war. Die Schwestern versuchten, Gorm nicht zu reizen und Lore erfüllte Klam jeden Wunsch im Voraus. Da sie Flüchtlinge waren, ergab es sich, daß die Familie in einer ärmeren Hütte hauste als die anderen. Sie hatten auch ärmere Kleidung und die Kinder hatten ärmeres Spielzeug. Die Dorfbewohner betrachteten sie als asozial, konnte aber nicht umhin, die hohe Bildung und das gute Benehmen zu bemerken. Auch sprachen weder Lore noch die Kinder den lokalen Dialekt. Dies hatte zur Folge, daß die Kinder zwar nicht belästigt, jedoch auch nicht beachtet wurden. Sie galten als rätselhafte Wesen, von denen sich fern zu halten klüger war.

   Das sonderbarste Wesen der Familie aber war Klam. Er war über alle Maßen schlank, trug sein Haar ungeschnitten und war in allen Dingen ungehorsam. Er stritt sich nie, hatte niemals jemanden geschlagen oder belästigt. Auch als renitent konnte ihn keiner bezeichnen. Doch wenn Klam einmal etwas abgelehnt hatte, konnte nichts und niemand ihn wieder umstimmen. In der Schule war er immer der Beste. Klam hatte in jedem Fach die besten Noten, obwohl er weder Hausaufgaben erledigte, noch für Schularbeiten lernte. Eine Beteiligung am Unterricht fand nicht statt, was seine Lehrer ratlos machte, die sich ob seiner schnellen Auffassungsgabe nicht entschließen konnten, seine Mitarbeit am Unterricht der Realität entsprechend mit einer schlechten Zensur zu bewerten. Allein in Sport hatte Klam keine guten Noten. Er mochte nicht zu den verschiedensten Erniedrigungen gezwungen werden. Klam weigerte sich, bei Ballspielen jener Mannschaft anzugehören, welche mit nackten Oberkörpern spielen mußte, weil es keine Trikots in verschiedenen Farben gab. So entging den Sportverantwortlichen das Talent Klams, einen Ball eng am Fuß zu führen und mit einem ansatzlosen Tritt dorthin zu schlagen, wo er ihn haben wollte. Bei Läufen über Strecken von mindestens 8ooo m zeigte Klam mehr Ausdauer als alle anderen Schüler und schaffte es leicht, durch kluges Haushalten seiner Kräfte die vorangepreschten Läufer einzuholen und als Erster, meist auch als Einziger, das Ziel zu erreichen.

   Die Kleidung Klams bestand meist aus Stücken, die seine Schwestern zuvor getragen hatten und die von Mutter Lore umgenäht wurden, was seine Mitschüler zu Hohn und Spott animierte. Klam reagierte darauf mit für ihn typischem Trotz. Er ermutigte seine Mutter dazu, die ursprüngliche Form der abgetragen Kleider zu bewahren, was diese schweren Herzens tat. Klam genoß dadurch vor allem die neu gewonnene Freiheit seines Schwengels unter den Röcken und Kleidern, der nun ungebändigt durch Unterwäsche stets verfügbar war. Als Lore Swietz bemerkte, daß Klam der Unterwäsche entsagt hatte, stattete sie seine älteren Schwestern hauptsächlich mit Hosen aus. Das brachte Klam dazu, sich seine Beinkleider fortan selbst herzustellen.

   Im Alter von 5 Jahren hatte der frühreife Klam bereits ein überwältigendes Gefühl entdeckt, als er sich auf eine Fensterbank geschwungen hatte, um aus einem Fenster hinaus zu schauen. Das Schaukeln auf seinem Penis hatte ihm einen kollossalen Genuß bereitet. Er kannte kein anderes Gefühl mit ähnlicher Intensität und liebkost seitdem bei jeder sich bietenden Gelegenheit sein Genital. Seinen Schwanz in eine enge Hose zu zwängen, erschien ihm bereits damals vollkommen absurd. Als eines Nachmittags Klams Spielkameradin Tilly seinen erigierten Schwanz zu Gesicht bekam, mit dem er gedankenverloren unter einer Birke spielte, gestattete der Zwölfjährige ihr, ihn zu berühren. Tilly bot ihm darauf ihre Vagina an, die Klam interessiert betrachtete und betastete, was seinen Penis wiederum deutlich härter machte, als er jemals zuvor gewesen war. Tilly war die imposante Versteifung nicht entgangen, die ihr enorm gefiel und sie rieb sein Glied der ganzen Länge nach mit beiden Händen. Klam streichelte daraufhin mit seinen Fingerkuppen ihre brötchenförmige, unbehaarte Vagina, wodurch die Spalte sich leicht geöffnet hatte. Die rosige Haut dahinter wurde seidig feucht und verströmte einen Klam bis dahin unbekannten, betörenden Duft. Bei einem gemeinsamen Früchtesammeln ergab es sich, daß Klam die für ihn verblüffende Entdeckung machen konnte, daß sein Penis in hartem Zustand genau in die Vagina von Tilly hineinpasste. Für Klam war seit diesem Erlebnis ohne Zweifel klar geworden, daß er für den Rest seines Lebens nach nichts mehr streben werde, als danach, die Wonnen, die sein Glied ihm bereitete, zu vereinen mit dem Glück, das ihm Tillys wundervolle Vagina beschert hatte.

   Die Schmerz-Therapeutin Fran Barnello behandelte den von stärksten Qualen gepeinigten Klam Swietz zum ersten Mal, als er 16 Jahre alt war. Zunächst hatte sie keine Kenntnis von der Existens des eingewachsenen Bruders Gorm, der eigentlichen Ursache für Klarns Leiden. Klam wiederum hegte romantische Gefühle für die aparte Akademikerin und in der Annahme, jegliche Chance auf Annäherung zu verlieren, verschwieg Klam seinen Bruder. Bei einem Spaziergang zum Nachbardorf, zu dem er die Angebetete  überreden konnte, begegnete den Beiden eine ausgelassene Gruppe von Klosterschülerinnen, die singend und tanzend in frommer Manier ihrem Schöpfer huldigten. Gorm, der eine Affinität zu Gesang und Tanz hat, konnte nicht widerstehen, die vorher mit Klam getroffene Vereinbarung, im Beisein von Fran Barnello nicht zu erscheinen, zu ignorieren und schälte sich unter lautstarkem Grunzen und Gröhlen aus Klams Achselhöhle, worauf die Jungnonnen betend das Weite suchten. Fran aber verstand die Misere Klams, nachdem der erste Schreck überwunden war, und sprach mit Gorm auf eine Weise, wie es nie ein Mensch zuvor versucht hatte. Gerade so, als sei sein Auftritt nicht ungewöhnlich gewesen. Sie brachte Gorm sogar dazu, sich zurück zu ziehen und rang ihm das Versprechen ab, die Vereinbarungen mit Klam von nun an einzuhalten. Dafür mußte Fran jedoch versprechen, Gorm einen Wunsch zu erfüllen. Sie sollte nackt auf einem Tisch tanzen, während Gorm eine scharfe Suppe zu sich nahm. Fran erfüllte Gorm diesen Wunsch noch am selben Abend und entdeckte ihrerseits eine bisher unbekannte Neigung, die sie mit den zwei ungleichen Brüdern von nun an gemeinsam genießen konnte.


Klam Swietz blickte ermattet ins Leere.
"Woher weiß sie das alles? Oh, achso. Ich glaube, wir müssen uns mal ernsthaft unterhalten."
Die Abspann-Musik der Lindenstraße erklang.

"Sorry, das ist mein neuer Handyklingelton." Klam Swietz kramte sein Mobiltelefon aus der Reisetasche, drückte auf den grünen Knopf und sprach:
   "Hallo Rina. Wir haben gerade über Dich gesprochen. Wo bist Du? Und wann? Klar, warum nicht. Also bis dann. Ja, sag ich ihr. Tschüß." Er wandte sich an Ignorella:
   "Rina kommt heute abend zu Besuch. Sie sagt, sie hätte eine tolle Überraschung. Sie will gegen 20 Uhr da sein. Und bis sie da ist, erklär mir bitte, was Du ihr von mir noch so alles erzählt hast!" Ignorella lächelte milde.
   "Aber erinnerst Du Dich denn an gar nichts mehr? Vor zwei Jahren, Du hattest diese Phase, als Gorm fast täglich erschien. Deine Schmerzen waren so stark, daß Du diese Tropfen genommen hast, und damit hast Du Dich schließlich abgeschossen. Du hast 2 Tage ununterbrochen geredet." Klam war das außerordentlich peinlich, zumal er sich nur noch an die Zeit nach dem Abklingen der Ruhigstellung erinnern konnte. Er hatte sechs Wochen im Neurologischen Therapiezentrum verbringen müssen.
   "Und Ignorina war auch dort? Das hast Du mir nie erzählt."  
   "Ich wollte es für Dich nicht peinlicher machen, als es sowieso schon war. Du hast ja nicht nur geredet, wenn Du weißt, was ich meine." Klam ahnte, worauf Ignorella anspielte.
   "Oje, das arme Kind. Sie hat das also mitgekriegt. Das tut mir schrecklich leid. Wie soll ich ihr nur wieder in die Augen blicken können?"
   "Mach Dir deswegen mal keine Sorgen. Wir haben damals natürlich darüber geredet, ich habe ihr erklärt, daß die Chemie in Deinem Körper so durcheinander ist, und daß Du nichts dafür kannst. Sie hat es verstanden. Ich glaube, es hat ihr sogar gefallen. Ich meine, daß Du so hilflos warst, und nicht Deinen Drang, Dich zu entkleiden, von der Dauererektion mal ganz abgesehen."
   "Aber dieses Magazin, für das sie schreibt, wie heißt das noch mal? Profil-Megazine? Was hat das Ganze zu bedeuten? Ich bin doch kein Prominenter, wer will das schon wissen?"
   "Das ist ein Magazin, in dem unbekannte Autoren fiktive Biographien veröffentlichen. Ein unkommerzielles Projekt, um Talenten eine Plattform zu geben, damit sie ihre Geschichten auch mal in gedruckter Form sehen können. Für die wenigen Leser bist Du eine Kunstfigur. Du existierst für sie gar nicht." Klam versuchte, erleichtert zu sein, doch es wollte ihm nicht gelingen.
   "Tilly, ich hab Dir was verheimlicht. Du hast Dich vielleicht schon gewundert, daß ich..." Klams Stimme wurde leiser. "
   "Gorm ist nicht mehr da. Er ist vor einem halben Jahr gestorben, nachdem er sich weigerte, sich zurückzuziehen. Es war, als würde er ersticken. Erst dachte ich, das sei eines von seinen Spielchen, aber dann hat er aufgehört zu atmen. Ich habe ihn in eine Reisetasche gepackt, Fran von der Arbeit abgeholt und wir haben ihn im Wald begraben." Ignorella musterte Klam eindringlich, als wollte sie eine Lüge entlarven. Dann entfuhr ihr ein erleichtert klingendes Ausatmen.
   "Na Gott sei Dank. Entschuldige, aber das ist die beste Nachricht, die ich seit langer Zeit gehört habe. Das müssen wir feiern. Ich ruf Rina an, sie soll Schampus mitbringen."



Das neue Gerät

   Ignorinas Porsche Spyder kam einen halben Meter vor der Garage der Swietz' zum Stehen. Ignorina sprang aus dem Wagen und begrüßte die staunende Ignorella und den entsetzten Klam überschwänglich mit Luftküssen.
   "Ui, das war knapp. Voreiliges Bremsen ist  nicht gerade Dein Fetisch." scherzte Ignorella sarkatisch. Ignorina hielt ein klobiges Mobiltelefon in die Höhe und sagte mit atemloser Stimme:
   "Das glaubt Ihr nicht. Der Hammer. Ich kann es selbst kaum glauben. Unfassbar. Der Wahnsinn." Sie drückte Klam eine gut gekühlte Flache Domperignon in die Hand.
   "Mach auf! Mach auf! Mach auf!" In der Küche legte sie das vermeintliche Handy auf den Tisch und sagte mahnend: "Nicht anfassen! Ich war in der Werkstatt und wollte den mIB abholen. Wenn er nicht fertig repariert gewesen wäre, naja, sag ich jetzt nicht, jedenfalls hat der Lehrling mir erklärt, daß er den mIB in alle Einzelteile zerlegen mußte, um herauszufinden, wie er überhaupt funktioniert. Dabei kam ihm eine Idee und die hat er umgesetzt, ein Genie ist der Kleine. Passt auf! Das ist kein Handy, sondern das neue mobile Igno-Gerät. Aber es hat nicht nur den Igno-Button. Es wird ähnlich bedient wie ein Handy. Jemanden anvisieren und den GO-Button drücken: Igno ein. Der NO-Button hebt das wieder auf. Und jetzt kommts. Es gibt 2 neue Funktionen.
   Nummer 1: Auto-Igno. Gib "auto" ein und danach Stichwörter, zum Beispiel "wetter" und bestätige mit GO. Je nachdem wie Du vorher das Ding konfiguriert hast, werden alle, die dafür in Frage kommen, ignoriert. Ich habe es ausprobiert. Der Wettervogel, der diese scheußliche Hitze immer mit Super- oder Traumsommer bezeichnet hat: Schwupps und weg. Und das Beste kommt noch.
   Nummer 2: Mod-Igno. Ein Mod hat schon öfter Deine Posts gelöscht? Schreib einfach "mod" und dann den Namen. Drücke die grüne GO-Taste. Deine Posts sind dann für den Mod unsichtbar. Na, da staunt ihr, was?"
Ignorella pfiff anerkennend. "Das ist wirklich toll. Ist das ein Einzelstück?" Ignorina nickte, griff nach dem Unikat und verstaute es in ihrer Hosentasche.
   "Ja, das ist das einzige, das existiert. Ich hab dem Kleinen auch noch seine Skizzen abgeluchst. Morgen früh melde ich das Patent an und dann heißt es: Nie wieder arbeiten. Könnt Ihr Euch vorstellen, was mir das einbringen kann?"
   "Moment, Rina. Ist das nicht meins? Es ist doch aus meinem mIB entstanden." Ignorella bemühte sich, zurückzuhalten, wonach ihr gerade war. Ignorina antwortete wie nebenbei: "Dein mobiler Igno-Button ist im Handschuhfach. Ist fast wie neu."



Don't believe tha Hype!
Teil 1

Ignorina versprach, Ignorella ein Igno-Gerät herstellen zu lassen, sobald sicher war, daß damit kein Schaden für die Benutzer entstehen kann. Ignorella, Ignorina und Klam Swietz hatten daraufhin das neue mobile Igno-Gerät 3 Tage lang getestet. Sie waren mit Klams Auto zu möglichst entfernt gelegene Orte gefahren. Orte, die zu uninteressant waren, um jemals wieder von ihnen besucht zu werden. Damit hatten sie mögliche Konflikte vermeiden wollen.
  "So nett die neuen Funktionen auch sind, es bleibt dabei, nicht jeder kann damit umgehen, und man sollte das Ding nicht einfach so kaufen können." Ignorinas Erkenntnis wurde erstaunt und kopfnickend aufgenommen. Ignorella ergänzte: "Ich halte auch nichts von dem Igno-Schein. Mir reicht schon das Brimborium um den KFZ-Führerschein. Ein Igno-Schein wäre nicht nur ein bürokratisches Übel mehr, der änderte auch nichts an dem Problem, daß der mIB in die Hände derer geraten würde, die damit ignoriert werden sollen." Klam bestätigte. "Aber Mod-Igno hat was." Ignorella fasste zusammen.
   "Auto-Igno ist eine nette Spielerei, birgt aber die Gefahr, daß man geradezu über Ignorierte stolpern würde. Es wäre auch zu unpersönlich, mit der Tendenz zur Massen-Igno. Was Mod-Igno betrifft, bin ich hin- und her gerissen. Einerseits scheint es die Erfahrung zu bestätigen, daß es unter Mods einen überdurchschnittlich großen Teil gibt, dem die Bedeutung ihrer eigenen Funktion weitgehend unbekannt ist. Nicht einmal die Bedeutung des Wortes Moderator scheint die zu interessieren. Statt die Forenschreiber zu vermitteln, eine sinnvolle Diskussion voranzutreiben, sei es dadurch, Vorschläge zu brisanten Aspekten zu machen oder den Betreffenden mittels einer Nachricht zum Ändern der Post zu bringen, oder auch, einen Thread zu pausieren, bis die Diskussion wieder aufgenommen werden kann, reduzieren Mods zu oft ihre Möglichkeiten auf das Löschen von Posts. Und dagegen kommt keiner an. Diese gottgleichen, faulen, verantwortungslosen Dummköpfe zu ignorieren, ist sicher ab und zu erholsam und ich behalte es mir vor, einfach mal abzudrücken."



Mathilde 'Tilly' Morgentaler

Mathilde "Tilly" Morgentaler, besser bekannt unter dem Namen Ignorella, wuchs mit ihrer Mutter Margarethe in einer Wohnsiedlung für Unerwünschte in einer badischen Kleinstadt auf.
An die 4 Jahre, während der sie zuvor noch mit Vater Friedrich und Bruder Phillip in einer Betriebswohnung der in dem Städtchen ansässigen Schokoladenfabrik namens Schockenheim wohnten, konnte Mathilde sich gut erinnern. Mutter Margarathe wollte die Gründe für die Umsiedlung aus dem komfortablen Einfamilienhaus in das dritte von insgesamt 8 identischen, exakt aneinandergereihten, 5 Stockwerke hohen Wohnblöcken jedoch nicht nennen oder daran erinnert werden. Tilly sah die Verantwortung dafür bei dem Vater, der seinen Lebenswandel nach der Hochzeit mit Margarethe Kahrmann und der Geburt des ersten Kindes kaum 4 Monate später, auf die gleiche Weise fortführte, wie er es seinerseits von seinem Vater Roland "Rolle" Morgentaler gelernt hatte. Friedrich hatte stets aufgeschaut zu dem kernigen Mann, und er war stolz auf die wichtige Position, die dieser innehatte. Ohne seinen Vater, das wußte Friedrich, fuhr der Jahrmarkt nicht los. Eines Morgens konnte Friedrich beobachten, wie 3 Männer seinen Vater noch vor Sonnenaufgang persönlich abgeholt und zu den abreisefertigen Wagen begleitet hatten. Friedrich hatte zwar Mathilde zuliebe eine feste Arbeitstelle angenommen, aber er vermisste seine gewohnte Freiheit sehr.
   Erst gelegentlich, dann öfter, und schließlich regelmäßig erschien Friedrich nicht an seinem Arbeitsplatz. Margarethe hatte davon jahrelang nichts bemerkt, da Friedrich jeden Morgen das Haus verließ. Friedrichs Weg aber führte ihn zuerst an die Trinkhalle, wo er die Magenaufbaupräparate, wie er sie nannte, Stonsdorfer und Sechsämtertropfen erstand, die er dann gemeinsam mit den noch frierenden Fahrensleuten und Aufbauhelfern auf dem Messplatz verzehrte. Dort wurde er immer freundschaftlich begrüßt, dort fühlte Friedrich sich wohl.
   Tilly war die erste gewesen, die bemerkt hatte, daß sich die Familie zu verändern begann. Sie hatte eine erstaunlich feinsinnige Beobachtungsgabe und spürte, daß der Boden unter ihren kleinen Füßen bald unter ihr weggerissen würde. Es waren Kleinigkeiten wie Gesten, Stimmlagen oder Pausen in Unterhaltungen, die sie nicht genau deuten konnte, die aber in ihrem Kopf eine düstere Melodie erzeugten, wie eine musikalische Untermalung, die auf kommendes Unheil schließen ließ.
   Margarethe verließ Friedrich noch am gleichen Tag, als sie von der Kündigung durch seinen Arbeitgeber erfuhr. Sie nahm Tilly mit zu Oma Kahrmann, Phillip blieb im Haus bei seinem Vater. Ein Jahr später, beinahe zur gleichen Zeit, als Margarethe mit ihrer Tochter die Sozialwohnung bezog, wurde das Haus, in dem sie einmal gewohnt hatten, und das nunmehr im ganzen Städtchen und darüber hinaus bekannt war, geräumt. In der lokalen Kleinstadtzeitung war danach noch wochenlang von skurrilen Funden während der Räumung und von Berichten der Anwohner über Friedrich Morgentaler und dem Wolfsjungen zu lesen gewesen.
   Die Kindheit Tillys machte in der neuen Umgebung einen wilden, kurzen Schlenker und pendelte sich neu ein. Sie ließ sich den Neuanfang nicht nehmen und blendete alles aus, was sie an ihre gemeinsame Zeit mit dem männlichen Teil ihrer Familie erinnerte. Dazu gehörte auch die Erwartung, daß sie Freundschaften knüpfen würde. Für Tilly klang das Wort Freundschaften nach Kumpelei, Saufen, Zusammenrotten, Betrug. Ihr Vater hatte stets betont, wie wichtig Freunde seien.
   In der Schule war Tilly nicht besonders gerne gesehen. Obwohl sie seit ihrem Auszug nichts mehr mit ihrem Vater und ihrem Bruder zu tun gehabt hatte, mußte sie sich gegen Erniedrigungen zur Wehr setzen, die ihren Ursprung bei Friedrich und Phillip hatten, so zum Beispiel schienen es Einige darauf abgesehen zu haben, für sie den Spitznamen Wolfsmädchen etablieren zu wollen. Tilly überstand all diese Anfeindungen mit deutlich dargestellter Gelassenheit. Allein dem Nachbarjungen Klam Swietz hatte sie von ihren Kopfschmerzen erzählt, nachdem sie zufällig beim Fernsehen auf eine Sendung über grausige Massenmorde stieß, deren Begleitmusik genauso klang wie die Melodien in ihrem Kopf. Sie wußte, daß Klam ebenfalls unter starken Schmerzen litt. Mit Klam verband sie die einzige Freundschaft ihres bisherigen Lebens und sie verriet keinem Menschen davon.
   Nachdem Tilly ihre Abiturprüfung bestanden hatte, verließ sie die Kleinstadt und ging auf Reisen. Lange bevor der Esotherikwahnsinn über die Post-Achtundsechziger kam, versuchte Tilly schon, fernöstliches Simsalabim mit deutscher Gründlichkeit zu verbinden, um auf diese Weise Geld zu verdienen. Sie hatte sich an eine Wette mit Klam Swietz erinnert. Aus ihr selbst nicht erkennbaren Gründen hatte sie eine Liebe zu Lochern entdeckt und eine beachtliche Sammlung dieser Bürohelfer zusammengetragen. Klam hatte bei einer Unterhaltung über Tillys Zukunftspläne gescherzt, sie könne ja eine Praxis für Lochopädie eröffnen. Tilly setzte das in die Tat um. In Annoncen bewarb sie ihre Praxis mit Slogans wie z.B.:
Lochen ist gesund
Und ewig locht das Weib
Wer zuletzt locht, locht am besten
Lochen ist die beste Medizin

   Tilly hatte keinen Erfolg mit ihrer Geschäftsidee, lernte dadurch jedoch den umtriebigen Alleinerben Claude-Maria Van Dimsch kennen, der eine Schwäche für Nonsens jeglicher Art hatte und Tilly vom Fleck weg heiratete, nur um sich nach wenigen Wochen freundlich wohlwollend von ihr scheiden zu lassen, damit sie keine monetären Nöte mehr verspüre.


Familienbande

   Die Zeit, die Ignorella in Swietz' Haus verbrachte, verging wie im sprichwörtlichen Fluge. Sie hatte keine von den gewohnten Verpflichtungen wahrnehmen müssen, die sie zum Teil für jenen Stress verantwortlich machte, der sie daran hinderte, ihr selbst entworfenes Idealbild eines aufgeklärten, modern kommunizierenden Freigeistes mit rigoros humanistischer Ethik als impulsgebender Kraft für die Veränderung der Gesellschaft zu kultivieren. Sie fragte sich, was sie tun könnte, um ihre Ausgeglichenheit zu bewahren. Ihre Nichte Ignorina hatte vorgeschlagen, eine Liste zu erstellen, auf der möglichst viele relevante Komponenten verzeichnet waren, die Widersprüche in Anspruch und Wirklichkeit in sich bargen.
   "Das ist eine tolle Idee, Rina." Klam hatte das gesagt und sofort wieder vergessen. Er konnte seinen Blick nicht vom Schritt der jungen Frau lösen, die ihm gegenüber auf einer Couch lümmelte und wie nebenbei mit ihrer Vagina spielte. Sie trug keinen Slip unter ihrem Rock und hatte den Rock auch nur angezogen, weil Ignorella sie dazu überredet hatte. Für Klam schien Ignorina eine perfekte Mischung aus Ignorella und ihm selbst zu sein.
   "Sag mal, Rina..." Der Klang von Klams Stimme ließ Ignorella aufhorchen.
   "Wenn stimmt, was Du in 'Profile-Megazine' über Tilly geschrieben hast, frage ich mich, wer Dein Vater ist." Ein paar Sekunden lang war die Welt stumm, taub und zeitlos, als wäre ein Pausenknopf gedrückt worden. Dann setzte die Welt sich wieder fort.
   "Klam, Klam, Klam. Du hast Dich das ernsthaft noch nie zuvor gefragt? Du bist es jedenfalls nicht, das haben wir nachweisen lassen. Nein, Klam. Dieses Kapitel ist aber abgeschlossen, mein Vater lebt nicht mehr."
Ignorella ergänzte:
   "Er ist vor einem halben Jahr gestorben, wie ich vor kurzem erfahren habe."



Wenn Bäume ficken könnten - Teil 1

   "Hubertus Graf von Schenkeldotter. Ach Gottchen, was für ein Name. Ich wette, der ist nicht echt, so heißt doch keiner. Palle, was meinst Du dazu?" 
   Mockel blickte Palle von der Seite an und wartete nicht auf dessen Antwort.
   "Na, ich geh da jedenfalls hin. Das laß ich mir nicht entgehen. Im Glitteratur-Buchladen heute um 20 Uhr. Was zieh ich da nur an? Palle, was ziehst Du an, es soll ja zusammen passen. Wahrscheinlich wieder ganz in Schwarz. Ich kenn doch meinen Pallemann, oder?"
   Palle und Mockel waren ein Paar, und niemand wäre auf die Idee gekommen, daß das einmal anders gewesen sein könnte. Seit sie in der Birkenstraße wohnten, hatte man sie nicht einen Tag getrennt gesehen. Sie waren sogar für viele der Inbegriff von Harmonie, denn kein Streit hatte ihre Eintracht bisher trüben können. Palle linste durch das Schaufenster des Buchladens, in dem Gudrun Herschel Stühle aufstellte.
   "Die Gundy sieht traurig aus", seufzte er. "Ich bring Blumen mit oder was Süßes".
Mockel wandte seinen Blick von dem Plakat im Schaufenster ab und musterte Gundy nun seinerseits.
   "Süßes besser nicht. Ich glaube fast, die Diabetes hat sie erwischt, sie ist ganz schön aufgequollen, findest Du nicht?" antwortete Mockel.
   Ein anerkennder Pfiff riß die beiden synchron an das Fenster Lehnenden aus ihrer Erstarrung. "Gleich zwei geile Ärsche winken mir zu, welchen nehme ich nur zuerst?" scherzte Rudolfo, der Fahrradkurier, den beiden Männern vom Radweg aus entgegen.
   "Ach Du bist es, Rudolfo. Wenn Du nicht so eine solide Hete wärst, könnten wir darüber reden. Stimmts, Palle?" Mockel nahm Palle an der Hand und ging mit ihm auf Rudolfo zu.
   "Was gibts Neues? Ach Du liebes Bißchen, eine Radlerhose im Hawaiihemd-Design. Grundgüter! Was muß ich sehen? Oder besser, was verpasse ich dadurch. Man sieht ja Deinen Dödel kaum. Das muß er nicht tragen, hab ich Recht, Palle?" 
   Rudolfo hatte seine erste Tour gerade beendet und war auf dem Weg zum Bistro an der nächsten Straßenkreuzung, wo er eine Verabredung hatte. Er schwang sich übertrieben dynamisch vom Fahradsattel und kramte ein Blatt Papier aus seiner Kuriertasche.
   "Das ist sie, 22 Jahre jung, blond und geil auf dicke Lümmel. Rudolfo macht sie heute glücklich." Mockel nahm das Papier und fragte mit leicht überschnappender Stimme:
   "Du hast das ausgedruckt? Hilfe, ist das peinlich. Das ist ja wohl typisch Mann, Palle. Oder etwa nicht?" Rudolfo faltete das Papier zusammen, steckte es in seine Hemdtasche und hob beide Daumen. Dann bestieg er sein Fahrrad wieder und radelte seines Weges.
   "Klasse Arsch hat er ja, nicht wahr, Palle?" sprach Mockel in gedämpftem Ton.
   "Los komm, ich bin geil. Beeil Dich, wir gehn nach Hause. Hast doch Lust, oder?" Sie gingen schnellen Schrittes auf das Haus zu, in dem sie zusammen lebten.

   Im Buchladen "Glitteratur" hatte Gundy inzwischen die Vorbereitungen zur Autorenlesung beendet. Sie saß rauchend auf dem Sessel, der für den Vorleser bestimmt war und hatte die Füße auf dem Tisch davor liegen. Sie hatte noch immer das Gefühl nicht loswerden können, auf einen Spaß hereinzufallen. Pseudonyme kannte sie genügend und wußte, daß selbst der skurrilste Name noch nichts über einen Autor aussagt. Das Motto der Lesung aber erschien ihr doch nicht ganz seriös zu sein.
   "Wenn Bäume ficken könnten". Gundy wiederholte das Motto ein weiteres Mal, schüttelte ihren Kopf und beschloß, besonders auf der Hut zu sein, wenn auch nur das Geringste auf eine versteckte Kamera deuten sollte. Das Plakat, das auf einen anschließenden Gangbang in der nebenan gelegenen Discothek "Fummler" hinwies, hatte sie vorsichtshalber abgenommen. Sie wollte sich nicht ausmalen, welchen Eindruck das auf ein Fernsehpublikum machen könnte. Sie hatte die dritte Zigarette in Folge geraucht, als es an der Eingangstür klopfte. "Na dann wolln wir mal. Naja, wird schon alles gutgehen", sagte sie zu sich selbst, richtete ihre Kleidung und öffnete die Tür.

   Hubertus Graf von Schenkeldotter verließ das Bistro, nachdem er eine Tasse mit schwarzem Kaffe getrunken und eine leichte Mahlzeit zu sich genommen hatte und wäre beinahe mit dem Fahrradkurier zusammengeprallt, dessen Blick suchend über durch den Gastraum schweifte. Der Autor verkniff sich, mehr als ein kuzes "Sorry" zu murmeln. Kontakte mit Fremden waren ihm schon immer unangenehm gewesen, erst Recht mit solchen, die ihre Gehänge allzu deutlich öffentlich zur Schau stellten. Er trottete auf die Buchhandlung zu, in der er heute lesen würde und ordnete in Gedanken den Ablauf neu. "Schalallera" sollte nun doch den Abend eröffnen. Er vermutete zwar, daß sich sein heutiges Publikum von dem gewohnten unterschied, wollte aber genau deswegen gleich von Anfang an die Spreu vom Weizen trennen. Er war nicht finanziell abhängig von solchen Lesungen, sondern lebte auf diese Weise einen Fetisch aus, der zu speziell war, um überhaupt als solcher anerkannt zu werden. Als er noch die Entwicklungsabteilung eines der größten Nutzfahrzeugeherstellers weltweit geleitet hatte, verbat er sich gar das Eingestehen dieser Obsession. Erst durch einen Waldspaziergang während eines Urlaubes in Finnland platzte bei ihm der Knoten. Er hatte sich verirrt und wurde erst nach 18 Stunden gefunden, als er gerade das Astloch eines umgestürzten Baumes fickte. Hubertus Graf von Schenkeldotter klopfte an die Scheibe der Eingangstür des Buchladens. In 20 Minuten sollte die Lesung beginnen, und er wollte vorher noch in Ruhe onanieren, damit ihm das Malheur einer Erektion während des Vorlesens nicht ein weiteres Mal passierte.

Hannah Gencgün, Almira Rösner-Degowski, Evelyn Fützenhagen, Tilly Morgentaler und ihre Nichte Katerina nahmen eine ganze Gehsteigseite für sich in Anspruch, als sie leicht angeschickert den kurzen Weg zu der Buchhandlung "Glitteratur" zurücklegten. Sie hatten ihren Frauenstammtisch früher und nüchterner als üblich beendet, um sich bei der Lesung mit dem Motto "Wenn Bäume ficken könnten" zu amüsieren.
   "Das ist bestimmt so ein Fuzzy mit Essensresten im Bart", mutmaßte Almira, worauf ihre Freundinnen unisono den Refrain von Rammsteins "Alter Mann" intonierten. Den ganzen Nachmittag über hatten sie sich bei jeder Gelegenheit mit Rammstein-Zitaten übertrumpft und nichts deutete darauf hin, daß sich das so bald ändern würde.
   "Wir gehen doch später noch ins Fummler, da ist heut Gang Bang", sagte Evelyn, drei Frauen antworteten headbangend im Chor:
   "Gang Bang! Gang Bang! Gang Bang!Feuer frei!" Tillys Frage "Kostet das Eintritt?" wurde mit "Asche" gekontert und das Stolpern eines Passanten, der dem Inferno in Frauengestalten nicht aus dem Weg gehen konnte, wurde begleitet von "Das Gleichgewicht wird zum Verlust". Es war eindeutig, die Frauen waren gut drauf.

   "Evi, wie war Dein Date? Und wie lang war er wirklich?" wollte Almira wissen. "Ich traf heute einen Herrn, der hatte mich zum Fressen gern", antwortete Evi, eine arbeitslose Vollzugsbeamtin, und fügte hinzu: "Die Größe war perfekt, aber der Kerl ein Idiot. Da hatten ja die Jungs im Knast bessere Manieren. Und bessere Ausdauer. Der hat mich kaum angesehn, immer nur seinen Schwanz, und nach 10 Minuten wars vorbei." 
   Tilly: "Das alte Leid". Alle im Chor: "Ich will ficken." 
Am Eingang zum Buchladen hatte sich eine Menschentraube gebildet. "Nicht zu fassen", staunte Hannah. "Da ist er, der mit der grellbunten Radlerhose, der Blitzficker", sagte Evi und die Frauen sangen "Du bist hässlich". Rudolfo war das nicht entgangen und drängelte sich ein Stück weiter zur Tür, um aus dem Blickfeld der herannahenden Freundinnen zu entschwinden. Auch Palle und Mockel erhielten ihre gesungene Botschaft, "Mann gegen Mann". Sie kannten den Text und sangen lauthals mit.
    "Ey Mockel, was ist los hier? Warum steht ihr draußen rum und geht nicht rein?"
   "Raus! Rein! Raus!"
Palle erwiderte: "Wegen Gang Bang. Es sind zu viele Leute, die sich angemeldet haben. Jetzt ist der Fummler Chef, der Spritzi, auf die Idee gekommen, daß nur jeder dritte Kerl, der die Lesung besucht, mitmachen darf. Und einer hat grad ne Karte gekriegt für den Gang Bang."
Die Worte "Stimmts Palle?" gingen im Frauenchor unter.
"Gang Bang! Gang Bang! Feuer Frei! Gang Bang!"
   Die Frauen vor der Tür des Buchladens wurden wie üblich durchgewunken und Evi, Almi, Hannah, Tilly und Rina besetzten die Mitte der vorderen Reihe, direkt vor dem Autoren, der bereits in seinem Sessel saß und in ein Buch schaute. Die Tür schloß sich und die Vorlesung konnte beginnen.
Ohne einleitende Worte zu sprechen, erhob Hubertus Graf von Schenkeldotter die Stimme und rezitierte ein Gedicht.



Schalallera
Liebeswerben einer Birke an einen Holunderstrauch.
Totz Pippano patz Palunke peckulante Spankemann,
Potz Perlahmo Pimm Parlotze Schlackelbramme, Mantelspann.
Hockefockel, Meuklaweu!
Teklameu! Maleuklameu!
Schalle Lalle Rallela?
Ralleschall Schalallera!

Kulmentruller Kolterplacke. Fumpeltumpel, Patz prokant.
Klitscheflatscher Runkenspacke, Fuppertrull. Pisant Pisamt!
Prunkeschmatte Runkenpumpel,
Sprunkellatte Tuntenkumpel.
Lalle schalle Rallela,
Lalleschall Schallallera.

Pellemante, pompisante, markomante Plantenranke,
Spunkelige Mantenstanke, Pockelante Hankefanke.
Patteralle Pank Spananke, flattefante Frankenpranke.
Rallerall Schalallera!
Ralleschall Schalallera!

Ockeltimockel, Tande rantam!
Spockeltiwockel, Rantande ramtam!
Tante ran tam Tanteram,
Rantan tantam Ramteram
Schalle lalle rallela?
Ralleschall schalallera!

   Während der letzten Zeilen linste Von Schenkeldotter über seine runde Brille hinweg ins Publikum. Wie erleichtert vom Verlust einer schweren Bürde atmete er tief ein und stieß die Luft mit runden Wangen wieder aus. Nun sah er, daß sich eine junge Frau von ihrem Stuhl erhob, mit ausgestrecktem Arm auf ihn deutete und schimpfte:
   "Dieser Mann ist ein Betrüger." 

Von Schenkeldotter versuchte, die Anklägerin zu erkennen, konnte sich aber nicht daran erinnern, die junge Frau jemals zuvor gesehen zu haben.
   "Das ist nicht sein Gedicht.  Er hat es nicht geschrieben. Mein Onkel las es mir vor, als ich an arger Grippe litt und das Bett hüten mußte im Alter von 11 Jahren. Er las es, noch bevor es fertig geschrieben war und ich durfte seine Lektorin sein. Hubertus Graf von Schenkeldotter, erklären sie sich!" sprach Katerina und machte ein bedeutsames Gesicht. Ihre Tante, Tilly Morgentaler, blickte sie mit offenem Munde an. Noch nie hatte Katerina auf solch eine Weise gesprochen. Sie schluckte, befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge und rief nun ihrerseits:
   "Ja, sie verdammter Dieb, was sagen sie jetzt? Gut gemacht, Rina."

Im Publikum wich die Schockstarre allmählich und machte einem ratlosen Gemurmel Platz. Hubertus Graf von Schenkeldotter war von seinem Sessel aufgestanden und bewegte beide Hände mit gespreizten Fingern und nach unten gewandten Handflächen auf und ab:
   "So beruhigen sie sich doch. Ich habe doch nicht behauptet, das geschrieben zu haben."

   "Ha!", unterbrach ihn Mockel. "Bei einer Lesung trägt man aber keine fremden Texte vor. Das gehört sich nicht, oder doch, Palle?"   "Von wem ist denn dieses, äh, dieses Gedicht, dieser Text, wer hat das geschrieben?" fragte Almira Rösner-Degowski.
   Evelyn Fützenhagen: "Von mir aus braucht der Schenkelmann nicht weiterlesen."
   Gudrun Henschel versuchte das Stimmengewirr zu glätten: "Seid doch mal ruhig! Der Vorleser kann ja gar nicht Stellung nehmen."
   Klam Swietz begab sich zu dem Tisch, hinter dem Hubertus von Schenkeldotter in seinem Sessel versunken war und ins Leere blickte. Als er Klam Swietz erkannte, stand er auf und trat ihm gegenüber:
   "Klam, es ist schön, zu sehen, daß Du wohlauf bist. Es müssen 10 Jahre vergangen sein, seit wir..."
   "8 Jahre und 7 Monate, um ganz genau zu sein. Du hast wohl nicht mehr mit mir gerechnet. Ganz schön mutig von Dir, das Gedicht offen auszusprechen. Du hast wohl vergessen, was damals in Myanmar geschehen ist."
   "Nein, niemals werde ich das vergessen. Schließlich trage ich eine ständige Erinnerung daran mit mir herum"
, antwortete Von Schenkeldotter und begann, sein Hemd aufzuknöpfen.
   "Du hattest ja das Glück, rechtzeitig das Land zu verlassen. Damit ist Dir das erspart geblieben."   Hubertus von Schenkeldotter breitete seine Arme aus und präsentierte dem Publikum seinen nackten Oberkörper. Nun verstummten die letzten Stimmen und im Buchladen "Glitteratur" herrschte eine vollkommene Stille. Für ein paar Sekunden schien die Zeit dehnbar zu sein. Dann wurde die Stille hinweggefegt durch Laute des Entsetzens. Vom Bauchnabel bis zur Brustwarze betsand der rechte Teil Von Schenkeldotters Brust aus einem zerklüfteten Loch. Um dieses Loch herum wuchsen aus verschorften Pusteln feine Triebe heraus, die nicht anders als pflanzlich zu beschreiben waren. Es waren kleine, beinahe durchsichtige Blätter zu erkennen und blattlose Luftwurzeln oder Ranken, die sich langsam kreisend bewegten, als würden sie irgendwo Halt suchen. Die Haut Von Schenkeldotters war entzündet, glänzte dunkelrot und verströmte einen erdigen, schimmeligen Geruch.
   Klam Swietz widersprach Von Schenkeldotter: "Das ist Dir nicht widerfahren, weil Du nur im Lande warst, Hub. Im Gegenteil kann ich mich gut daran erinnern, daß Du aus freien Stücken jede Hilfe ausgeschlagen hattest."
   "Wenn es denn jemals hilfreich sein soll, zu zerstören, was der Seele Wonne bringt, so lehne ich die Hilfe ab und trage stolz die Konsequenz."

Klam Swietz lachte heiser und erwiderte:

"Ich durchschaue Deine Masche, Hub. Was Du nun mit dieser Art von gestohlener oder selbst erdachter Poesie vorzutäuschen versuchst, in bedeutungsvolle Wortverkleidungen hüllst, wie der letzte Vertreter moralischer Standhaftigkeit quasi, hat doch den Ursprung darin, was uns allen vertraut ist, was uns ebenso durch das Leben peitscht, wie es Dir widerfahren ist."   Von Schenkeldotter, der noch immer mit ausgestreckten Armen vor dem Publikum stand, schloß die Augen.
   "Du liebes Bißchen, Jesus hätte nicht besser posen können. Du weißt schon, Palle, ... Palle?"
Mockels Worte und das Geräusch von auf Parkettboden klatschende Kotze, das Palle beisteuerte, brachten Von Schenkeldotter offensichtlich aus seinem Konzept. Er blinzelte in sein vor ihm auf dem Tisch liegendes aufgeschlagene Manuskript, fand aber nichts, was ihn auf eine Idee brachte. Tilly Morgentaler, die bereits ungeduldig zu werden schien, ergriff das Wort: "Langweilig! Schmierentheater. Schluß damit! Klam, was redest Du für ein geschwollenes Zeugs daher? Kann mal einer zur Sache kommen? Und was hat dieses verfickte Gedicht damit zu tun? Klam?"Klam Swietz wandte sich um und sprach zum Publikum:
   "Ja, ich habe den Text geschrieben, den Hubetus Graf von Schenkeldotter heute fehlerhaft, aber folgenschwer zitierte. Doch ich habe das Gedicht nicht erdacht. Ich habe es lediglich übersetzt. Ein weiblicher Holunderstrauch hatte es mir vorgetragen, als ich eines lauen Abends im Frühling unbekleidet in seiner Nähe im Gras lag. Da Holundersträuche die Sprache der Bäume zwar tadellos verstehen, aber aufgrund der Verschiedenheit ihrer Artikulationsmöglichkeiten im Vergleich mit Bäumen nicht korrekt aussprechen können, übersetzte ich das Gedicht erst in bäumisch und dann aus dem bäumischen in die deutsche Sprache. Die Sprache der Bäume hat ja weniger Buchstaben als unsere. Es gibt zum Beispiel kein B und kein D, die Interpunktion ist eher marginal ausgeprägt, und auch Großbuchstaben sind den Bäumen fremd, was gerade Holundersträuchen, zumindest den gebildeteren unter ihnen, oft mehr als nur mildes Kopfschütteln verursacht.
   Daher wird eine vollkommene Übersetzung niemals möglich sein können. Ergriffen jedoch von der rührenden Verliebtheit des überaus hingebungsbereiten Holunderstrauchweibchens verschwand jeglicher Drang nach Korrektheit aus mir und gab der romantischen Seite in mir Platz, um die aufregende Wucht des Techtelmechtels mit diesem Geschöpfe ungehemmt auf meine Libido wirken zu lassen. Was ich damals nicht wußte, war die ungeheure Verbreitung dieser Kommunikation. Das Gedicht, einmal ausgesprochen, war in einem Umkreis von über 600 Kilometern zu hören, sofern die Sprache verstanden wurde. Ich schrieb darüber in einem Artikel für die Zeitschrift Botanficker. Von Schenkeldotter hatte das gelesen und begann nun, eine Alternative zu seiner gescheiterten menschlichen Sexualität zu suchen und fand etwas, das über das Verfassen von Liebesbriefen deutlich hinausging. Hubertus Graf von Schenkeldotter war schon während seiner Schulzeit bekannt für seine Vorlieben für technische Vorgänge, Statistiken und dem Genuß seiner eigenen Popel. Ausgestattet mit hoher Intelligenz erreichte er einen beachtlichen Verlauf seiner Karriere, ohne jedoch in den Genuß der Befriedigung seiner Lust zu gelangen. Durch bestimmte Umstände, die ich vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt erläutern werde, geschah es, daß er ein Geheimnis entdeckte, das die Machthaber von Birma, dem Vorgängerstaat von Myanmar, bis dahin vor der Öffentlichkeit verstecken konnten. Es ist nicht ganz korrekt ausgedrückt, aber im Prinzip hatte er entdeckt, daß es dort Pflanzengattungen gibt, die sich gerne mit Menschen paaren. Oder um es ganz prägnant zu sagen: Manche Pflanzen dort sind geil darauf, mit Menschen zu ficken."


Fortsetzung folgt.